Nikolaus-Hegetschweiler Emilie *28.März 1887

Aus Ottenbach
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Zürich Wild West

Emilie Hegetschweiler aus Ottenbach gründete in der kalifornischen Wüste ein kleines Zürich. Wie kam sie dazu? Auf Spurensuche in einer Geisterstadt.

Autor:

Peter Aeschlimann Zurich CA

Die Erde im Owens Valley ist grau und furchig wie der Rücken eines alten Elefanten. Ausser ein paar hungrigen Moskitos und einem Präriehasen, der sich in den trockenen Salbeisträuchern versteckt, gibt es hier: nichts. Kein Wasser, keinen Schatten – nicht einmal ein Echo. Nur rostigen, von Patronen durchsiebten Abfall, unnütze Betonbrocken und Glasscherben. Als hätte die Wüste alles verschlungen und danach das Unverdauliche ausgespuckt. Und doch lässt der blaue Punkt auf dem Handybildschirm keinen Zweifel daran: Das hier ist der Ort. Das ist Zurich, California.

Ich wurde ja gewarnt: «Gehen Sie nicht dorthin», hatte der Mann mit der Truckermütze gesagt und an seinem Bud Light genippt. «Es sei denn, Sie wollen von einer Klapperschlange zu Tode gebissen werden oder einen Hitzschlag erleiden.» Das war vor ein paar Stunden, in einem Saloon an der State Route 120, in dem ein staubiger Bärenkopf an der Wand hing und der Barkeeper schon um die Mittagszeit in den Seilen. Beim Meilenfressen auf den schnurgeraden Strassen verliert die Zeit an Bedeutung, man schaltet den Tempomaten auf «on» – und irgendwann kommt man an. Mit «Downtown Switzerland» hat dieses Zurich ungefähr so viel zu tun wie der FCZ mit Niederhasli. Immerhin eine Parallele gibt es: Während in Zürich-West in den Clubs gefeiert wird, ballern die Jugendlichen in Zurich Wild West auf rostigen Schrott. Lustig und laut ist beides.

Flinten und Monster

Unweit eines zerbeulten Eisenklumpens in der Form eines gigantischen Marshmallows hat jemand eine Gedenktafel montiert. Der Bahnhof Zurich wurde 1884 in Betrieb genommen, steht da. Eine gewisse Emilie Nikolaus sei für den Namen verantwortlich gewesen, die Ausläufer der Sierra Nevada hätten sie an ihre alte Heimat erinnert.

Die Berge sind noch da, die Schienen der Carson-&-Colorado-Eisenbahn aber, auf denen die Farmer und Minenbesitzer einst ihre Ware nach Los Angeles brachten, haben Schrotthändler längst verkauft. Was ist schiefgelaufen in diesem Zurich? Wo sind die Menschen hin? Ab ins Eisenbahnmuseum nach Laws!

In dieser Geisterstadt nahe Bishop haben Talbewohner vor einem halben Jahrhundert eine Art Wild-West-Ballenberg errichtet. In vielen Holzhäusern sind unzählige Arbeitsutensilien, Alltagsgegenstände und Kleidungsstücke aus der Zeit der Pioniere und Goldgräber ausgestellt: Schreibmaschinen, Pickel und Gewehre. Viele, viele Gewehre. Zu den Attraktionen gehören eine Dampflokomotive namens Slim Princess und ein ausgestopftes siamesisches Lamm. Amerikaner liebten halt «roadside attractions» sagt Pam Vaughan, die Fotoarchivarin des Museums: die dickste Kuh, das tiefste Loch – oder eben ein Schaf mit acht Beinen. Nutzer der Plattform Tripadvisor haben Laws zur zweitbesten Sehenswürdigkeit der Gegend erkoren, knapp hinter einem alten Kiefernwald.

Vaughan, eine pensionierte Geschichtslehrerin, die mit ihrer roten Designerbrille eher ins hippe San Francisco passen würde als in dieses gottvergessene Tal, bittet ins Büro und verteilt Wasser: «Trinken Sie das, sonst halten Sie diese elende Hitze nicht lange aus.»

Viele verirren sich nicht in diese Wüste, die Hollywood gerne als Kulisse braucht. Über 400 Filme sind hier entstanden: «Gladiator», «Ironman» oder Quentin Tarantinos «Django Unchained» etwa. Das Bürogebäude, in dem Vaughan jetzt alte Schwarzweissfotos von Zurich ausbreitet, wurde 1966 für den Film «Nevada Smith» mit Steve McQueen gebaut.

«Da haben wir sie ja: Emilie Nikolaus, geborene Hegetschweiler», sagt Vaughan und zeigt eine stolze Frau in hochgeschlossenem Kleid, sanft in die Kamera lächelnd. Geboren am 28. März 1887 in Ottenbach, Zürich, steht da; gestorben am 16. Dezember 1968 in Kalifornien.

Der Krieg um das Wasser

Was bringt eine junge Frau aus dem Reusstal dazu, in die kalifornische Einöde auszuwandern? Das wisse sie auch nicht so genau, sagt Vaughan. Unbestritten ist: Das Owens Valley war damals eine ziemlich fruchtbare Region. Riesige Kuhherden grasten auf grünen Weiden, es gab Obstbäume und Weinreben. «Doch dann hat uns Los Angeles das Wasser geklaut», sagt Vaughan. Die Tragödie ging als Kalifornischer Wasserkrieg in die Geschichte ein: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kaufte die nach Wasser dürstende Grossstadt L.A. den Bauern im Owens Valley Land für 25 Millionen Dollar ab, baute einen riesigen Aquädukt und ein fast 400 Kilometer langes Leitungssystem. Die Proteste der übrigen Talbewohner, ihres Wassers und damit ihrer Existenz beraubt, ver­sickerten im staubigen Wüstenboden – die Entwicklung der Metropole ging vor, selbst der damalige Präsident Theodore Roosevelt segnete das umstrittene Projekt ab.

Nachdem ein paar minderjährige Cowboys aus Bishop mit Dynamit einen Anschlag auf den Aquädukt verübt hatten, brachte L.A. die Aufmüpfigen mit einem gepanzerten Zug und Waffengewalt endgültig zum Schweigen. 1960 stellte Carson & Colorado den Betrieb seiner Eisenbahn ein. Zurich, Laws und die anderen Stationen entlang der Linie verlotterten zu den Geisterstädten, die sie heute sind. «Weiter kann ich Ihnen leider nicht helfen», sagt Vaughan, aber drüben in Big Pine gebe es noch Nachfahren von Emilie. «Rufen Sie Amy Nikolaus an!»

Handyempfang gibts erst wieder in Bishop. Klone von Taco Bell, KFC und Subway säumen die Strassenränder. Auf dem Parkplatz vor der Mall erreiche ich Amy Nikolaus. Sie sei gerade beim Zelten im Yosemite Park: «Hier ist es nicht so verdammt heiss!» Und ja, Emilie Hegetschweiler sei ihre Urgrossmutter gewesen, eine so sture wie rechtschaffene Person, die fast jeden Abend eine Schweizer Mahlzeit zubereitet und danach gestrickt habe. So jedenfalls habe es ihr Grossvater Donald erzählt, Emilies jüngster Sohn, und so habe sie es auch in ihrem Buch über die Familie Nikolaus aus Big Pine geschrieben. «Ich maile Ihnen später ein PDF, bye!»

Verliebt auf hoher See

Im Motel öffne ich das Dokument: Emilie Hegetschweiler reiste mit 18 zum ersten Mal nach Amerika. Der Rektor ihres Gymnasiums hatte die tüchtige Bauerntochter seinem Bruder in New Jersey als Haushaltshilfe empfohlen. Nach zwei Jahren an der Ostküste kehrte Emilie 1907 zurück in die Schweiz. Unfreiwillig, wie Amy Nikolaus herausgefunden haben will. Emilie hatte sich beim Verzehr von Pilzen eine üble Vergiftung geholt, die sie in Ottenbach auskurieren wollte.

Drei Jahre später brach sie abermals in die Staaten auf. Im französischen Boulogne-sur-Mer bestieg sie den Passagierdampfer Lincoln mit Ziel Ellis Island in New York. Auf dem gleichen Schiff befand sich der deutsche Staatsbürger Paul Nikolaus, ein 35-jähriger Ingenieur. Auf hoher See verliebten sich die beiden und beschlossen, sich in Kalifornien niederzulassen – an einem Ort, der ihrer Heimat Europa ähnlich war.

1913 trat Paul seine Stelle als Bahnhofswärter von Alvord an. Dass nur ein paar Meilen weiter südlich im Owens Valley bereits eine Station gleichen Namens existierte, erlaubte es der heimwehgeplagten Emilie aus Ottenbach rund zehn Jahre später, jenem Flecken, der nun ihr Zuhause war, einen neuen Namen zu geben. Vermutlich ging hinter der Sierra Nevada gerade die Sonne unter und tauchte das Tal in goldenes Licht, als Emilie Nikolaus-Hegetschweiler ihrem Mann bei einem Zürcher Geschnetzelten feierlich mitteilte: «Das hier ist der Ort. Das hier ist Zurich, California.»

Dieser Artikel ist erschienen im Tages-Anzeiger vom 17. September 2016