1.Augustrede B.Schneider: Unterschied zwischen den Versionen

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Beichte war diese Beichte individuell und fand nach dem Gutdünken des
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jeweiligen Pfarrherrn statt. Hatte er Informationen herausgekitzelt, büsste er das
jeweiligen Pfarrherrn statt. Hatte er Informationen herausgekitzelt, büsste er das
Fehlverhalten umgehend und hiess die betreffende Person im nächsten GottesISENBERGSTRASSE
Fehlverhalten umgehend und hiess die betreffende Person im nächsten Gottes
dienst in die Schandecke stehen. Er kontrollierte, dass alle Abgaben – insgesamt
dienst in die Schandecke stehen. Er kontrollierte, dass alle Abgaben – insgesamt
gut 25 Prozent der Produktion der Haushaltungen – ordnungsgemäss nach Zürich
gut 25 Prozent der Produktion der Haushaltungen – ordnungsgemäss nach Zürich
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erhältlich auf der Gemeindekanzlei Ottenbach
erhältlich auf der Gemeindekanzlei Ottenbach


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Aktuelle Version vom 15. März 2023, 15:01 Uhr


Rede zum 1. August 2004 in Ottenbach ZH

Sie sind hier, um den Geburtstag der Schweiz zu feiern. Einer solchen Feier kommt vor allem ein symbolischer Charakter zu: Wichtig ist bei einem Geburtstag nicht der exakte Tag, manchmal auch nicht das exakte Jahr, sondern die Achtung und Aufmerksamkeit, die man dem Jubilar entgegenbringt. Ein historisch gewachsener Staat wie die Schweiz bietet viele Möglichkeiten, einen Entwicklungsschritt als Anfang zu bezeichnen – sei es der Landfriedensbund der Waldstätte von 1291, das Bündnis der Waldstätte mit Zürich 1351, die faktische oder die rechtlich verbindliche Loslösung vom deutschen Reich 1499 beziehungsweise 1648, das Ende des alten Ständestaates 1798 oder die Bundesverfassung 1848. Stellt man den föderalistisch-demokratischen Rechtstaat ins Zentrum, wäre die Bundesverfassung sicher ein geeigneter Anlass zum feiern, doch seit 1891 wird der 1. August als Nationalfeiertag begangen, während zuvor lange Zeit der 9. Dezember im Gedenken an ein Bündnis der Waldstätte von 1315 im Vordergrund gestanden hatte. Wir sind heute alle froh, dass sich der 1. August durchgesetzt hat – eine Feier im Winter liesse sich entschieden weniger attraktiv gestalten. Ich möchte mittels eines Rückblicks auf Elemente aus der Geschichte von Ottenbach skizzieren, wie unser Staat zu dem geworden ist, was er heute darstellt. Die Anfänge unserer Gemeinde gehen auf das Frühmittelalter zurück. Die Ursprünge der heutigen Siedlung dürften zwischen dem 5. und dem 7. Jahrhundert entstanden sein, so, wie ein Grossteil der Siedlungen in der Schweiz. Diese Zeit liegt weitgehend im Dunkeln. Erste Informationen über Ottenbach stammen aus dem Hochmittelalter, der klimatischen und wirtschaftlichen Blütezeit vom 9. bis zum 13. Jahrhundert. Der Ort war damals aufgeteilt in drei Fronhöfe, welchen die Familien von Ottenbach als hörige Bauern und Landarbeiter angehörten. Jeder Hof unterstand anderen Machthabern, für jeden galt ein eigenes Recht. Im 13. Jahrhundert erwarb das Kloster Kappel zwei der drei Ottenbacher Höfe von verschiedenen Rittern. Dies war typisch für die Lage um 1291, dem Übergang vom Hoch- zum Spätmittelalter: Feudalrechte wurden von kleinen Adligen, welche diese teilweise selbst verwalteten, verkauft, um ihnen zu ermöglichen, in eine Stadt zu ziehen und dort ein Leben als Rentner zu führen, also von den Erträgen des ererbten Geldes zu leben. Die Verwaltung von Feudalrechten, die sehr viel Aufwand und Wissen erforderte, wurde professionell von Klöstern übernommen, die damit Einkommen und Arbeit für die Mönche schufen. Indem das Kloster Kappel ein Feudalrecht nach dem anderen in Ottenbach kaufte, konnte es diese vereinheitlichen. Dies vereinfachte die Verwaltung, verbesserte die Kontrolle – und verminderte die Freiheit der Dorfbevölkerung, die sich zuvor immer auf alte Rechte hatte berufen können, die sich nur schwer überprüfen liessen. Das Spätmittelalter, das vom Ende des 13. bis zu Beginn des 16. Jahrhunderts dauerte, war eine Zeit der Hungersnöte und Seuchen. Um 1300 hatte sich das Klima markant verschlechtert, die Erträge sanken grossräumig, von 1313 bis 1317 fand die erste gesamteuropäische Hungersnot statt, der viele Menschen zum Opfer fielen. 1347 bis 1352 folgte die erste gesamteuropäische Pestepidemie, die gegen 50 Prozent der Bevölkerung hinraffte. Es folgten in unregelmässigen Abständen weitere Hungersnöte und Pestepidemien. Was die Lage der Ottenbacher Bevölkerung weiter verschlechterte, war, dass die Stadt Zürich konsequent alle Herrschaftsrechte östlich der Reuss aufkaufte. 1429 einigten sich Zürich und Luzern, die Reuss als Grenze zwischen ihren Hoheitsgebieten gegenseitig zu anerkennen. War es zuvor möglich gewesen, vor dem Abtransport der Zinsen und Zehnten auf einem Wegstück, das unklaren Hoheitsverhältnissen unterstand, mit einer Bewässerungsaktion einen Sumpf herzustellen, in dem die Wagen des Feudalherrn stecken blieben, oder in der Reuss Sandbänke zu erzeugen, welche den Ladeschiffen die Durchfahrt verwehrten, verringerte die Zusammenfassung der Herrschaftsrechte in einer einzigen Hand die Möglichkeiten der Landleute, die Abgabenlast einseitig zu mildern. Um sich gegen die Zuwanderung aus der Landschaft zu schützen, erhob die Stadt von der Landbevölkerung Sondersteuern, mit welchen sie den Bau der Stadtmauern finanzierte. Mit der Reformation, die am Anfang der Neuzeit steht, brachte die Stadt Zürich als letzten Mosaikstein die Kirche unter ihre vollständige Kontrolle. Fortan bestimmte sie, welcher Stadtbürger in Ottenbach als Pfarrer Aufsicht über die Bevölkerung hielt. Er war Seelsorger, Unternehmer, Spitzel und Dorfpolizist in einem. Er zog von den Haushaltungen Abgaben ein – Getreide, Eier, Obst, Wein – , mit welchen er Handel trieb, um zu flüssigem Geld zu gelangen. Mit einem inoffiziellen Wirtshausbetrieb im Pfarrhaus brachte er den Dorfwirt im Engel, der für sein Wirtshauspatent gutes Geld bezahlen musste, manchmal zur Weissglut. Verdächtigte er jemanden einer Missetat oder eines moralischen Fehlverhaltens, zitierte er ihn oder sie zur Beichte ins Pfarrhaus – im Gegensatz zur katholischen Beichte war diese Beichte individuell und fand nach dem Gutdünken des jeweiligen Pfarrherrn statt. Hatte er Informationen herausgekitzelt, büsste er das Fehlverhalten umgehend und hiess die betreffende Person im nächsten Gottes dienst in die Schandecke stehen. Er kontrollierte, dass alle Abgaben – insgesamt gut 25 Prozent der Produktion der Haushaltungen – ordnungsgemäss nach Zürich abgeliefert wurden, Abgaben, für welche die Landbevölkerung keinerlei Gegenleistung erhielt. Er selbst unterstand als Stadtbürger einem anderen Recht und konnte daher im Dorf nahezu schalten und walten, wie er wollte. Mit der Reformation erhielt die Stadt Zürich zudem eine moralische Rechtfertigung, um gegen die Innerschweizer zu kämpfen. Nicht, dass die Auseinandersetzungen zwischen der Stadt erst damit begonnen hätten. Bereits im Alten Zürichkrieg von 1436 bis 1450 hatte Zürich die Getreidesperre als Kampfmittel gegen die von Getreideimporten aus Süddeutschland abhängigen Bundesgenossen eingesetzt. Nach der Reformation diente beiden Seiten die einzig wahre Religion, nämlich die ihre, der Rechtfertigung, um Auseinandersetzungen im Interesse der eigenen Wirtschaft zu führen. Zu diesen Auseinandersetzungen zählten die zahllosen Kriege zwischen den protestantischen Städten und den katholischen Landorten, vom 1. Kappelerkrieg 1529 bis zum Sonderbundskrieg 1847. Es gab aber auch diskretere Massnahmen zur Ausdehnung des eigenen Herrschaftsgebietes. Ein Beispiel dafür sind die sogenannten Schupfwuhren: Mit länglichen Verbauungen in die Reuss hinein wurde der Flusslauf so beeinflusst, dass auf der eigenen Fluss-Seite Land zu Lasten der Gegenseite gewonnen wurde. Während Jahrhunderten gab es beidseits unzählige Klagen, weil die Ottenbacher eine Schupfwuhr bauten, die Merenschwander eine Gegen-Schupfwuhr, die Ottenbacher wieder eine Gegen-Schupfwuhr, und so weiter, so dass die Reuss kaum mehr befahren werden konnte. So hart und ungerecht die Stadt Zürich der Landbevölkerung gegenüber auch war, wenn es um die Vorrechte der Stadt ging: Schikanierten die Ottenbacher die Katholiken jenseits der Reuss, konnten sie auf die Unterstützung ihrer Obrigkeit zählen – und umgekehrt die Merenschwander auf die Hilfe der Stadt Luzern. Mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert wurde die adlige Oberschicht der Stadt von Industriellen verdrängt, welche nicht mehr auf ererbte Einkünfte aus der Landschaft setzten, sondern das Geld produktiv – und oft auch rücksichtslos – in Fabriken vermehrten. Für die Ottenbacher Bevölkerung war diese Zeit nicht viel weniger hart als das absolutistische 18. Jahrhundert: Die Ablösung der Zinsen und Zehnten bedeutete faktisch, dass das eigene Land ein zweites Mal bezahlt werden musste. Vielen war dies nicht möglich, weshalb sie ihre bescheidenen Güter zu einem Spottpreis verkaufen mussten. Als sich die Landbevölkerung beidseits des Albis gegen den ungerechten Zehntenloskauf wehrte, wurde der Aufstand im Bockenkrieg blutig niedergeschlagen, wie das Theaterstück der Ämtler Bühne in diesem Frühjahr anschaulich gezeigt hat. Doch es kam noch schlimmer: Innerhalb von 20 Jahren fegte die Industrialisierung die Heimspinnerei, von der die meisten Ottenbacher Haushaltungen in grösserem oder geringerem Mass lebten, hinweg. Für die meisten Ottenbacherinnen und Ottenbacher bestand keine andere Möglichkeit, als in einer Fabrik zu arbeiten – mit Arbeitszeiten von bis zu 80 Stunden pro Woche. Erst die Bundesverfassung von 1848 bildete die Grundlage für einen Staat, in dem alle Bürger – vorerst nur die Bürger – über gleiche Rechte und Pflichten verfügen. Die Bürgerinnen verfügen in Ottenbach seit 1969, im Kanton Zürich seit 1970 und in der Eidgenossenschaft seit 1971 über dieselben politischen Rechte wie die Bürger. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass wir die Freiheiten und Rechte, die wir heute geniessen, erst in den vergangenen rund 150 Jahren nach und nach erworben haben. Ein Blick über die Grenzen hinaus zeigt, dass diese Freiheiten und Rechte nur in kleinen Teilen der Welt eine Selbstverständlichkeit sind. Ausserhalb von Europa sind demokratische Mitsprache und gleiche Rechte für alle eher die Ausnahme als die Regel. Der Sinn des 1. August liegt nicht darin, Mythen aus der Vergangenheit heraufzubeschwören, die nichts mit der Geschichte und noch weniger mit der Gegenwart zu tun haben, er liegt viel mehr darin, sich zu besinnen, was uns unser Staat wert ist und was wir nicht verlieren möchten: Die sozialen Netze, die Rechtstaatlichkeit, das Recht auf Bildung, die Freiheit der Meinungsäusserung, die föderalistisch-demokratische Mitsprache, der Verzicht auf moderne Stadtmauern. Nur ein Staat, der über die notwendigen Mittel verfügt, kann diese Freiheiten sichern. In diesem Sinn ist mein Bekenntnis zu unserem demokratischen Rechtsstaat auch ein Bekenntnis dazu, dass wir nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten gegenüber Staat und Allgemeinheit haben. .......................................

Bernhard Schneider ist Historiker und Inhaber der unten aufgeführten Firma

© Schneider Communications AG ▪ Isenbergstrasse 36 ▪ Postfach 77 ▪ CH-8913 Ottenbach ▪ Tel +41 (0)44 776 21 30 ▪ info@schneidercom.ch

Bernhard Schneider ist Autor, beziehungsweise Mitautor der beiden Bücher über Ottenbach:

Bernhard Schneider, Ottenbachs Bevölkerung im Wandel der Zeit, 1986

Bernhard Schneider, Salomon Schneider, Ottenbach erzählt, 2014

erhältlich auf der Gemeindekanzlei Ottenbach


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